„Wie seine kalendarischen Vorgänger webt der Lyrik-Taschenkalender 2015 ein Netz aus Gedichten, poetischen Korrespondenzen und Kommentaren.”
Die Spielanordnung:
„17 Dichterinnen und Dichter aus Deutschland, Österreich und der Schweiz haben jeweils zwei Lieblingsgedichte deutscher Sprache ausgewählt und kompakt kommentiert. Der Herausgeber stellt seinerseits gemeinsam mit dem Lyriker und Essayisten Henning Ziebritzki alle am Taschenkalender beteiligten Autoren und Kommentatoren mit je einem exemplarischen Gedicht vor.”
(Michael Braun, „Editorial”)
Auf Buchhandel.de wird Günter Eich zitiert, dem man immer sein Ohr leihen sollte; oft hat er ja geschwiegen.
Es heißt dort:
„Gedichte sind mit Fragen befasst, nicht mit Antworten. In der Informationsgesellschaft ist der öffentliche Raum mit Antworten überfüllt, nichts mehr steht in Frage, es wird alles in medialer Überhitzung beantwortet, von der Schwangerschaft bis zur täglichen Katastrophe.
‚Ich bin nicht auf Antworten aus’, so spottete bereits Günter Eich, ‚sie erregen mein Misstrauen, ich optiere für die Frage.’
Auch die Gedichte des Lyrik-Taschenkalenders 2015 sind mit Fragen befasst – und das schließt auch die In-Frage-Stellung der Sprache mit ein. Es geht in diesen Texten nicht nur um poetischen Wohlklang und traditionell gebundene Rede, sondern auch um ästhetische Dissonanz und den Zusammenprall der Widersprüche.”
Ein Zitat von Ilse Aichinger echot in der Vorrede des Herausgebers:
„Ich bleibe am Rand. Nichts von der Strömung, die soll mich verschonen”.
Aus der inspirierenden Fülle der versammelten Gedichte, die auf unterschiedliche Weise daran mitarbeiten, „alte Sprach- und Denk-Ordnungen aus den Angeln zu heben” (Michael Braun), greife ich eines für den Monat Juli heraus, „Nachtschatten”, das von Martin Merz stammt und von dessen älterem Bruder Klaus Merz kommentiert wurde.
Zu den Gedichten Martin Merz‘, die unter dem Titel Zwischenland im Haymon Verlag in Innsbruck erschienen sind, schrieb Kurt Drawert: „Sie sind authentisch und in ihrem Vorhandensein zwingend.”
Dazu passt, was Klaus Merz zur Entstehung des hier abgedruckten Gedichts notiert:
„Am ersten März 1974 hockt er am Tisch vor seiner meergrünen Olivetti und hackt den ‚Nachtschatten’, als diktierte ihm einer den Text, mit zwei Fingern aufs Blatt.”
Nachtschatten
Salz ist im Meer.
Sterndämmer
reißt mich
in die Tiefe.
Ich erwache
unter Stimmen,
die Lieder vom Meer
singen.
Grün leuchtend
im Grau des Regens
Bänder von Algen.
Braun falten Schnecken
die Fühler zum Gebet.
Der Sternenkranz
hat viele Lichter.
Solche schönen, lange nachhallenden, Entdeckungen lassen sich hier machen, im Lyrik-Taschenkalender, der aufgrund der Idee, den zur Mitarbeit eingeladenen Dichterinnen und Dichtern freie Hand bei der Auswahl ihrer jeweils zwei Lieblingsgedichte zu geben, ein Überraschungsmoment immer schon eingebaut hat. Besonders schlagend scheint mir dies in der Paarung Eduard Mörike – Michael Lentz. / mr
Mit Gedichten – in der Reihenfolge ihres Auftretens (in Klammern die Kommentatoren) – von: Unbekannter Dichter (Matthias Göritz), Rolf Dieter Brinkmann (Sylvia Geist), Hugo Dittberner (Jürgen Theobaldy), Annette von Droste-Hülshoff (Marion Poschmann), Ursula Krechel (Jan Kuhlbrodt), Herta Müller (Matthias Göritz), Stefan George (Norbert Hummelt), Marion Poschmann (Henning Ziebritzki), Georg Trakl (Hendrik Rost), Peter Sendtko (Alexander Nitzberg), Johann Wolfgang von Goethe (Jürgen Theobaldy), Jürgen Theobaldy (Henning Ziebritzki), Anastasius Grün (Alexander Nitzberg), Ron Winkler (Insa Wilke), Nadja Küchenmeister (Michael Braun), Jan Wagner (Ralph Dutli), Arne Rautenberg (Michael Braun), Jan Kuhlbrodt (Michael Braun), Clemens Umbricht (Jan Koneffke), Carsten Zimmermann (Marion Poschmann), Matthias Göritz (Michael Braun), Paul Wühr (Christian Steinbacher), Mirko Bonné (Hendrik Rost), Hendrik Rost (Henning Ziebritzki), Hans Arp (Carolin Callies), Michael Lentz (Michael Braun), Steffen Popp (Henning Ziebritzki), Peter Hille (Jan Kuhlbrodt), Martin Merz (Klaus Merz), Norbert Hummelt (Henning Ziebritzki), Sylvia Geist (Henning Ziebritzki), Henning Ziebritzki (Michael Braun), Eduard Mörike (Jan Koneffke), Carolin Callies (Michael Braun), Albin Zollinger (Klaus Merz), Anneliese Hager (Christian Steinbacher), Ralph Dutli (Michael Braun), Christine Lavant (Nadja Küchenmeister), Katharina Schultens (Carolin Callies), Ursula Krechel (Sylvia Geist), Christian Steinbacher (Michael Braun), Alexander Nitzberg (Michael Braun), Jan Koneffke (Henning Ziebritzki), Franz Mon (Michael Lentz), Ernest Wichner (Nadja Küchenmeister), Eduard Mörike (Michael Lentz), Emmy Hennings (Michael Braun), Gottfried Keller (Ralph Dutli), Christopher Ecker (Arne Rautenberg), Klaus Merz (Michael Braun), Friederike Mayröcker (Norbert Hummelt), Ernst Herbeck (Arne Rautenberg).
Der Herausgeber
Michael Braun, geboren 1958 in Hauenstein/Pfalz, Studium der Germanistik und Politischen Wissenschaft, lebt als Literaturkritiker in Heidelberg. Er veröffentlicht Essays zu Fragen einer zeitgenössischen Poetik.
Eine Besprechung von Karl Piberhofer des vorjährigen Lyrik-Taschenkalenders („Was ein Gedicht alles kann”) können Sie im Onlinefeuilleton satt.org nachlesen, hier.
Lyrik-Taschenkalender 2015. Herausgegeben von Michael Braun. 224 Seiten, gebunden, Lesebändchen. 17,5 x 10,5 cm. Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2014. 15,80 Euro
One thought
Kommentare sind geschlossen.