Der mit 5000 Euro dotierte Preis der Hotlist geht 2024 an den Wallstein Verlag für den Roman „Nach den Fähren” von Thea Mengeler.
Darum hat die Jury sich für den Wallstein Verlag entschieden:
„Die Spezies Mensch ist zweifellos die einzige, die einen spezifischen Modus des Verschwindens erfand, der nichts mit dem Naturgesetz zu tun hat. Vielleicht sogar eine Kunst des Verschwindens“, heißt es in Jean Baudrillards letztem Text „Warum ist nicht alles schon verschwunden?“. Thea Mengelers „Nach den Fähren“, erschienen im Wallstein Verlag, interessiert sich weniger für die Gründe, warum die einst so belebte, touristisch erschlossene Insel, auf der der Roman spielt, von fast allen guten Geistern und Gästen verlassen wurde. Der anspielungsreiche Text fragt vielmehr danach, wie die verbliebenen, vom Schiffsverkehr abgeschnittenen Inselbewohner:innen mit ihren Verlusten und der ihnen auferlegten Isolation umgehen. Danach, wie das Leben weitergeht, wenn es nicht mehr in gewohnten Bahnen verläuft. Ob es Grund zur Hoffnung gibt, wenn alles dem Stillstand anheimgefallen scheint. Thea Mengelers atmosphärisch dichter Text widmet sich einzelnen Charakteren, die in teils loser Verbindung, mitunter auch in komplexen Abhängigkeitsverhältnissen zueinander stehen. Die Figuren sind uns nah und vertraut und bleiben uns dennoch fremd, bergen ein Geheimnis, das sie sich weigern preiszugeben. Gleiches gilt für den Roman selbst. Die vielen kleinen Kapitel erinnern an Puzzleteile, die sich während der Lektüre lose zusammenfügen. Das sich abzeichnende Bild aber bleibt bewusst schemenhaft. Gerade in dieser unheimlichen Ambiguität liegt die Stärke des Romans, der durch seine karge und präzise Sprache besticht und mit großer Sorgfalt lektoriert wurde. Hier ist kein Satz, kein Wort, keine Silbe zu viel. „Nach den Fähren“ von Thea Mengeler ist ein Text von beeindruckender literarischer Qualität und Reife, der die Kunst des Verschwindens und den Umgang mit Verlusten souverän vor Augen führt. Ebenso evident ist die herausragende Arbeit des Wallstein Verlags, der nicht nur wichtige Publikationen im Bereich der Geschichte, Philosophie und Literaturwissenschaft herausgibt, sondern auch ein ausgezeichnetes Gespür für literarische Titel beweist.

Den Dörlemann ZuSatz erhält das Verlagshaus Berlin für den Gedichtband „irgendetwas dazwischen“ von Odile Kennel und damit einen Satzkosten-Gutschein im Wert von 1.500 Euro.
So begründet die Jury ihre Entscheidung:
Seit vielen Jahren steht das Verlagshaus Berlin für eine Lyrik, die sich einmischt. Sein Slogan „poetisiert euch!“ kann als Aufforderung gelesen werden, Sprachkrusten aufzubrechen, Denkmuster in Frage zu stellen und Poesie politisch zu begreifen. In herausragender Weise verschränken sich dabei Gestaltung und Text, Gedicht und Illustration zu bibliophilen Gesamtkunstwerken. Bei der Lyrikerin Odile Kennel wird die Sprache dabei immer in einem Geflecht gesehen, zu anderen Sprachen, zum eigenen Körper, zu den Gerüchen der Stadt und dem Geschmack der Nacht. „Ich spreche keine Körpersprache fließend“ heißt es in einem Gedicht, in dem das lyrische Ich sich selbst erfrischend bewusst ist. Sich zeigt, als angreifbarer Körper, der berührt werden will und berührt. Lyrik ist bei Odile Kennel eine sinnliche Bewegung, in der Worte einen Geschmack nach Lippenstift, Salz und Gin Tonic entwickeln. In der Altersunterschiede weggetanzt und Schönheitsnormen verflüssigt werden. Odile Kennels Gedichte können Kleidung sein, wenn wir ansonsten nicht viel tragen wollen, sie legen sich zwischen uns, wie eine Membran, die die Schwingungen aufnimmt von dem, was uns verbindet. Das „Irgendetwas dazwischen“ des Titels ist die Zone eines ernsthaften Spiels, einer Verbindlichkeit, die man den Bedeutungen abverlangt und die im gleichen Atemzug lustvoll verweigert werdem. Weil hier nichts so eindeutig ist wie der Glaube an die Ambiguität. Uns beeindruckt, mit welcher Kraft und Ruhelosigkeit sich Odile Kennels Lyrik ins Leben stürzt, ihr Schreiben flottiert vor und hinter den Zeilen und verweigert sich jeglichen Stillstands. Mit Anja Noltes Illustrationen gehen Odile Kennels Gedichte in den Darkroom. Die Bilder erinnern an ineinander verschränkte Körpermaschinen, an die Verschmelzung von Technik und Fleisch. Sie wirken anziehend und bedrohlich zu gleich, tropfen, schmieren, spritzen und beißen sich fest. Sind achtsam, genau und ehrlich. So wie Odile Kennel schreibt, Anja Nolte illustriert, Andrea Schmidt gestaltet und Jo Frank lektoriert, so wollen wir Lyrik heute lesen. Gratulation!

Anna Engel moderierte die HOTLIST-GALA im Literaturhaus Frankfurt am 18. Oktober 2024. Anschließend wurden die Preise der Hotlist verliehen.