Limmat Verlag

30 Kandidaten stehen in diesem Jahr wieder bei der Jury und einer Internetabstimmung zur Wahl und können auf die Hotlist 2023 gelangen. In Kooperation mit Literaturblogs, die zum Glück ein großes Herz für unabhängige Verlage haben, stellt unser Magazin alle Kandidatenbücher vor.

Diesmal @fadenbuecher zu

Limmat Verlag

C. F. Ramuz: Sturz in die Sonne

Vielen Dank, @fadenbuecher!

„In Erinnerung an einen Sommer, als man hätte meinen können, dass es so kommt.“, so kommentierte der Autor selbst die 1922 erschienene Originalausgabe unter dem damaligen Titel „Présence de la mort“ (Gegenwart des Todes) und meinte damit den Hitzesommer 1921, ein Jahr zuvor, als die Temperaturen in Genf auf unerhörte und zuvor nie erreichte 38,3 Grad anstiegen. 100 Jahre später schwitzt der Übersetzer Steven Wyss am Seeufer, die Finger kleben an den Seiten fest, weder Kaffee noch ein Soda Zitrone wollen wirklich schmecken, wieder einmal sind es 38,5 Grad, nicht das erste Mal in diesem Jahr, und in jedem Jahr werden es mehr Tage, an denen die Stadt uns bäckt, werden es mehr Nächte, die so lustvoll tropisch genannt werden, in denen aber nichts passiert, außer dass uns die Hitze den Schlaf raubt. Was vor 100 Jahre unerhört schien, löst heute kaum noch ein müdes Zucken mit den verschwitzten Achseln aus: „Nun ja, der Klimawandel, was will man machen. Irgendwie hat die Wissenschaft ja eh schon vor Jahrzehnten gewarnt, aber nu ist halt auch zu spät. Unsern Kindern wird’s mal schlechter gehen.“

Ramuz‘ Roman liest sich in diesen Tagen wie ein Klimawandel-Buch mit Zeitraffer, es sind nicht jedes Jahr ein paar Zehntelgrad mehr Hitze, nicht hier und dort ein Wetterereignis, was immer öfter kommt, immer öfter passiert – die Jahrhundertflut alle paar Jahre –, sondern es ist der Weltuntergang, die Apokalypse ohne himmlische Heerscharen: Die Erde hat sich durch einen dummen, nicht näher erläuterten Gravitationsfehler aus ihrer Bahn bewegt und wird leider, leider, auch den Wissenschaftler_Innen tut es sehr leid, in die Sonne stürzen. Nicht irgendwann, sondern so Ende des Jahres ungefähr. Ramuz steigt gleich ein in seinen Text und der erste Satz dieses essayistischen Romans könnte so auch in einer Pressemitteilung einer beliebigen UN-Klimakonferenz stehen:

„Dann kamen die großen Worte; die große Botschaft wurde von einem Kontinent zum anderen über den Ozean gesandt. Die große Nachricht bahnte sich die ganze Nacht mit Fragen und Antworten ihren Weg über das Wasser.“

Nur dass die Menschen bei Ramuz keine Zeit haben zu leugnen, keine Zeit haben, eine junge Frau aus Schweden als Hassfigur zu diskreditieren statt sich den Problemen der Welt zu stellen. Bei Ramuz ist der Drops gelutscht, die Party gefeiert, das Pistazien-Eis geschmolzen und lässt sich nicht wieder auffangen. Man kann zum See gehen, einstweilen noch, sich die Beine kühlen und einen Wein trinken, mehr kann man nicht tun, außer Sterben halt, und das möglichst bald.

In 30 Kapiteln beschreibt der Autor diese Welt im Sturz. Jeden Tag wird es heißer, die Menschen vereinsamen, die Dörfer in den Bergen verschanzen sich gegen die Migranten aus den Tälern, die verzweifelt Schutz suchen („Es sind so eine Art Republiken, die jetzt überall entstehen; jedes Dorf ist eine dieser Republiken.“ S.119). Man besäuft sich, vergisst sich in Orgien und stirbt auf den Straßen. Die 30 Bilder erinnern dabei stark an die alpenländische Tradition des Totentanzes, an die Fresken in den gedrungenen gotischen Dorfkirchen, auf denen der Tod mit allen tanzt, einen Jeden, eine Jede an die Hand nimmt, Könige und Päpste ebenso umfasst wie er Bauern und Bäuerinnen umarmt und entführt. Der Tod als großer Gleichmacher, als karnevalistischer Gott der Gleichheit. Und es sind die gleichen Reflexe der Totgeweihten, die auch in einer beliebigen pestbefallenen Stadt des ausgehenden Mittelalters um sich greifen könnten: Man trinkt, man vögelt, man zieht sich zurück, ein namenloser Schriftsteller blickt zurück auf sein Schreiben, besingt ein letztes Mal die Natur und nimmt Abschied, ein anderer versucht verzweifelt in der einsamen Kammer seinen Durst zu löschen, trinkt den letzten Rest aus dem Krug und denkt an die Pistolen in der Lade. Reiche Leute flüchten sich an den Nordpol, hin zum angeblich ewigen Eis, nur um festzustellen, dass sie auch dort der Sonne nicht entkommen werden.

In den schweizer Bergen schmelzen die Gletscher, lösen sich die Hänge und stürzen in die Täler hinab, in seiner Danksagung erwähnt der Übersetzer, dass er zuerst über eine Ausstellung im Literaturmuseum Strauthof mit dem Titel „Climate Fiction“ an den Text gekommen sei, was zur Frage führt, ob der Roman tatsächlich ein Klimawandel-Text ist oder doch nur ein Weltuntergang. Er ist beides, stellt man am Ende fest: Vom menschengemachten Klimawandel und seiner Erforschung konnte der Autor 1922 noch nichts wissen, die Schuld liegt im Roman nicht bei der Menschheit, es ist reines Schicksal, Zufall, ein kosmischer Unfall und nicht Gier nach immer mehr Profit und immer mehr Wirtschaftswachstum. Doch die Auswirkungen sind erstaunlicherweise prophetisch präzise beschrieben, wenn auch zeitlich gerafft: das Sterben der Insekten und das Verstummen der Vögel, die Instabilität der Seen und Meere und die immensen Auswirkungen der Gletscherschmelze auf die geologische Stabilität der Alpen. Ganz abgesehen vom allgemeinen Zusammenbruch aller Gesellschaften, vom Verschwinden staatlicher Ordnung, die erst mit Gewalt und schließlich gar nicht mehr reagiert. Hier blickt der Roman in eine Zukunft, die wir noch vor uns haben: Flüchtlingsströme, wahnwitzige Technikgläubigkeit im allerletzten Moment, wenn etwa ein Flieger abhebt, um in den kühlen Wolken noch ein wenig länger zu überleben und nur von der sich immer weiter nahenden Sonne geblendet zu Boden stürzt (Ikarus lässt grüßen).

Das Buch wurde von dem 1992 geborenen Übersetzer und Schriftsteller Steven Wyss aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt und mit einem überaus spannenden Nachwort versehen. Hier spricht er über den Autor Charles Ferdinand Ramuz, sein Französisch, dass tief in der dialektalen Sprache seiner schweizer Heimat verankert war, ohne auf Helvetismen zurückzugreifen. Zeitgenössische Literaturkritik_Innen behaupteten sogar, Ramuz „schreibe zwar schöne Geschichten, aber diese bedürften erst einer Übersetzung ins Französische, damit sie dem Publikum überhaupt zugänglich würden.“ (Nachwort S.181). Er schreibt über seine eigenen Schwierigkeiten, die eigentümliche und sehr rhythmische Sprache des Autors in ein vielleicht gleichwertiges Deutsch zu übertragen und dabei die von der Standardsprache abweichende Syntax und die oftmals „schiefen Bilder“ zu erhalten. Das Nachwort allein ist wie eine gute Rezension, vielleicht sollte man hier mal hinten anfangen und sich mit dem Wissen, was uns der Übersetzer an die Hand gibt, durch den Text bewegen: Viele Kleinigkeiten fallen uns erst hinterher auf und mit ihm an der Hand ist es wie mit einer erfahrenen Freund_in zu reisen, immer wieder bleibt sie stehen und zeigt auf ein Haus, an dem wir achtlos vorbeigegangen wären, sagt irgendwas und wir fangen an zu sehen.

Am Ende ist die Welt untergegangen, obwohl noch nicht ganz: Noch dreht sich die Erde in ihrem Fall in die Sonne, was untergegangen ist, ist die Menschheit: „Alles ist nach und nach verstummt; alles ist noch mehr verstummt, unten auf der Erde und oben, an ihren beiden Enden und dazwischen.
Sie haben sich noch eine Weile geregt – sie haben sich nicht mehr geregt. Sie haben geschrien, sie sind verstummt. Auf der ganzen weiten Welt, auf der einen und der anderen Seite – die unter uns, die ganz in unserer Nähe, die von weiter weg, … . Niemand mehr, nirgendwo.“ (S.163f)
Erschienen 2023 im Limmat Verlag, Zürich. Übersetzt aus dem Französischen und mit einem Nachwort versehen von Steven Wyss. Der Roman ist auf der Shortlist der Hotlist 2023, einem Preis, der sich ganz der unabhängig verlegten Literatur verschrieben hat.

Für Euren Favoriten könnt ihr unter hotlist-online.com abstimmen oder einfach nur stöbern und Euch zwischen den neuen Buchschätzen unabhängiger Verlage verlieren, irgendwann kommt der Herbst, wer sich jetzt kein Buch kauft, kauft sich keines mehr. (sic!)

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