Yevgeniy Breyger: Gestohlene Luft (kookbooks)

Vom Verschwinden der Vögel oder: Was wird das für ein Leben? (Notizen zu Yevgeniy Breygers Gestohlene Luft)

Die in Yevgeniy Breygers Gestohlene Luft versammelten Gedichte lesen sich wie ein Countdown, hier werden Tage gezählt und Märchen erzählt, Wörter und Sätze in eine Luft geschrieben, die sich erinnert. Der in sechs Abschnitte geteilte Lyrikband fügt sich wunderbar in das spannende Programm von kookbooks, dem 2003 gegründeten Berliner Indie-Verlag, und überzeugt abseits vom Inhalt auch durch seine schlichte, ansprechende Gestaltung. (Notizen zu einem weiteren, sehr empfehlenswerten kookbooks-Titel kann man hier lesen.)

Ein sich wiederholendes Thema in Gestohlene Luft ist die Natur, aber weniger als Lebensraum, sondern als Referenzpunkt. Die Gegenden, durch die sich das lyrische Ich bewegt, sind beschädigt: „draußen sirenen, kontaminiertes wasser, ein freies elektron dringt in einen fisch.“ Ausgehend von einem „stausee aus realen problemen“ beschäftigt sich das lyrische Ich aber auch mit der Frage nach der eigenen Herkunft, „meine eltern waren thermische gesetze“, heißt es in einem der Texte, und vielleicht – so denke ich – gelten die Hauptsätze der Thermodynamik auch für das System „Familie“. Es sind gerade diese Verschränkungen mit den Naturwissenschaften, mit Bezügen zu physikalischen und mathematischen Phänomenen, die Breygers Gedichte auszeichnen und die Texte zwischen dystopischer Prognose und verspielter Leichtigkeit pendeln lassen. („Ich opfere meinen linken Meniskus für die Heilkräuterforschung, weil ich verliebt bin“, ist zum Beispiel ein Satz, den ich gern öfter als nur einmal unterstrichen hätte.)

Über diese Bilder und Vergleiche wird ein starker Kontrast erzeugt, die Natur und ihre (scheinbar) klaren Regeln einerseits, auf der anderen Seite das lyrische Ich mit einem Kopf, der „seltsamen gesetzen“ folgt. Dazwischen angesiedelt: die Tiere. Immer wieder tauchen Vogelschwärme auf oder ganze Fuchsfamilien, und Insekten „rufen mit der Stimme der Mutter“. Die Grenzen zwischen Menschen und Tieren werden aufgelöst, oder besser gesagt: nicht so ernst genommen, „bin ein Geschoss, eine Wand, eine Axt, ein Treibgut von Fröschen verfolgt, ein zu spät begriffener Abschied, […] ein Tierchen von vielen“. Das Herz wird zur „sammelurne für blicke panischer insekten“, und über allem schwebt die bedrohlich anmutende Frage: „was wird das für ein leben?“

Was wird das für ein Leben, wenn noch nie etwas gepflanzt wurde, „das selbst sein Wachstum bestimmte“, wenn wir das gute vom schlechten Plastik trennen, „ohne den Sinn von Verlusten zu begreifen“, wenn nicht im Nehmen, sondern im Begraben die Kunst liegt – offensichtlich geht es in Breygers Gestohlene Luft auch um unseren Umgang mit der Umwelt, um die Tatsache, dass wir „die letzte Hypothek“ aufgenommen haben, dass im schlimmsten Fall eine gerodete Welt zurückbleibt, in der weder Ankommen noch Verschwinden möglich sind. (Hier schließt sich auch die Klammer zu den bereits erwähnten Vogelschwärmen, nutzen Wissenschaftler*innen doch schon seit geraumer Zeit die Informationen über ihr Zugverhalten, um das volle Ausmaß der Klimakrise zu erfassen.)

Aber auch weitere, gerade durch das Jahr 2020 sehr unmittelbar gewordene Katastrophen sind den Texten eingeschrieben: „Mit der Pünktlichkeit einer Krankheit kommt der Frühling“, und das lyrische Ich beschäftigt sich mit der Frage, „welche Pheromone durch welche Zusatzstoffe ersetzbar sind“. Es geht folglich nicht nur um kaputte Gegenden, sondern auch um kaputte Menschen, eine „Masse aus Bakterien, Prothesen und Impfungen“, eine zersplitterte Gesellschaft:

Stechende Weltdüfte launischer Viren, ausgestorbene Rassen von Brutvögeln, die Seelen von allen zerstäubten Nierensteinen sammeln sich in der Atmosphäre und regnen hernieder auf die Impfgegner in kristalliner Klarheit.

Das Schöne an Breygers Gedichten: Die ihnen innewohnende Aktualität ist eine unaufdringliche, die mit ihrer Vielschichtigkeit und kombiniert mit sprachlicher Finesse auch ein zweites, ein drittes Mal Lesen belohnt.

„Überlebende von Schiffsunglücken“, notiert das lyrische Ich, „erinnern sich zuerst an die Augenfarbe ihrer Mutter“. Und damit sind wir bei einer weiteren Gemeinsamkeit der Texte angelangt: der Mutter-Figur. In ihr werden die zentralen Themen noch einmal gebündelt: „Sie hatte einen Pferdekopf und wieherte die Eulersche Zahl, das Periodensystem, die universelle Formel für Wolfsgeheul“. In der unmittelbaren Umgebung dieser Mutter bekommen die Gedichte märchenhafte Züge, und es ist sicher kein Zufall, dass gerade in diesem Kontext an die mythologische Figur der Undine angeknüpft wird.

Es gibt viele gute Gründe, aktuelle Lyrik zu lesen. Weil Gedichte aufgrund ihrer Machart, aufgrund ihrer Struktur ein Immer-Wieder-Lesen ermöglichen, tatsächlich sogar einfordern. Das bedeutet aber auch, dass sie diesem Prozess, dieser genauen, sezierenden Lesart standhalten müssen. Yevgeniy Breyger ist das mit seinem Buch Gestohlene Luft gelungen. Die darin versammelten Texte werden nicht weniger, je öfter man sie liest, ganz im Gegenteil, sie scheinen die Gesetze der Thermodynamik zu ignorieren und immer mehr zu werden.

Dank an Martin Peichl

  • Yevgeniy Breyger: Gestohlene Luft. Berlin: kookbooks 2020. 80 Seiten, Hardcover. 19,90 Euro.

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